Sichtbare Stereotypen abzubauen, ist nur die halbe Miete

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Sichtbare Stereotypen abzubauen, ist nur die halbe Miete

3. Januar 2024 agvs-upsa.ch – Wo treffen sich unternehmerisches Denken und die gestiegenen Bedürfnisse, die junge Talente an einen ­Arbeitsgeber stellen? Und wie lässt sich die Position der Frau im Autogewerbe nachhaltig stärken? Simone Ruckstuhl steckt mitten im Prozess der Geschäftsübernahme des Familienbetriebes und bringt ihre Sichtweise einer modernen Arbeitsstelle am «Tag der Schweizer Garagen» auf das Parkett. In Sachen Frauenförderung hat sie eine Botschaft ans Autogewerbe. Cynthia Mira

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Simone Ruckstuhl sieht im Trend der neuen Arbeitszeitmodelle auch Chancen und betont: «Die lauter geäusserten Bedürfnisse im Bereich der Arbeit und insbesondere die Wünsche nach alternativen Arbeitsmodellen, einer ausgereifteren Work-Life-Integration und sinnstiftender Arbeit tragen nicht nur junge Personen an mich heran.» Foto: Ruckstuhl Garagen/AGVS-Medien

Simone Ruckstuhl ist überzeugt: «Gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung unabhängig von der Branche.» Sie übernimmt ab Januar 2025 in vierter Generation die Zürcher Ruckstuhl Garagen mit mehreren Standorten. Jüngst hatte sie sich zudem in ihrer Bachelorarbeit mit dem Thema Frauen im Autogewerbe auseinandergesetzt. Anhand von acht Interviews mit weiblichen Fachkräften gewann sie eindrückliche Erkenntnisse. Im Januar gibt sie dieses Know-how und das Flair als junge Unternehmerin weiter. Sie sagt: «Ich werde im Alltag oft mit der Frage konfrontiert, was denn die junge Generation genau will und wie es für mich ist, so als Frau unter all den Männern.» Gerade diese beiden wichtigen, zukunftsgerichteten Diskurse im Rahmen der Tagung in eine grössere Runde tragen zu können, fände sie sehr spannend. Sie sei zudem offen, Meinungen und Inputs aufzunehmen, die ihre eigenen bisherigen Antworten herausfordern und möglicherweise verändern.

Die Suche nach Lösungen zu mehr Spielräumen bei den Arbeitspensen ist Ruckstuhl bereits aktiv angegangen. Wie sie mit den Herausforderungen in den unterschiedlichen Bereichen, sei es im Büro oder in der Werkstatt, umgeht, gibt es an der Tagung zu erfahren. So viel sei aber zu ihrer persönlichen Einstellung an dieser Stelle bereits verraten: «Wir stehen mit unseren Mitarbeitenden in engem Austausch und tüfteln gemeinsam mit ihnen daran herum, eine für sie wie auch für uns umsetzbare und beidseitig zufriedenstellende Lösung zu finden.» Learning by doing laute dabei das Motto – immer in unternehmerisch sinnvollem Mass. «Der fortlaufenden Veränderung mindestens mit einer Offenheit und möglicherweise mit einer mass- und sinnvollen Anpassungsfähigkeit zu begegnen, würde ich als unternehmerische Stärke einordnen», betont sie. 

Wie wertvoll dieses «auf die Mitarbeitenden zugehen» sein kann, beruht auch auf Ruckstuhls früherer Führungserfahrung. Vor ihrem Einstieg in den Familienbetrieb war sie als Geschäftsleiterin des Ausbildungsradios 3Fach in Luzern tätig und trug da die Verantwortung über rund 40 junge Arbeitnehmende unter 25 Jahren. Im Januar wird sie am Podiumsgespräch mit den aktuell besten Nachwuchstalenten im Autogewerbe teilnehmen (Fabio Bossart, SwissSkills-Gold, EuroSkills-Silber, Florent Lacilla, SwissSkills-Sieger 2018/2020, WorldSkills-Gold, Noah Frey, SwissSkills-Bronze 2022/2023 und Sophie Schumacher, WorldSkills-Teilnehmerin 2024).
 
Die AGVS-Medien wollten als Einstimmung unter ­anderem wissen, was die überraschendsten Erkenntnisse ihrer Bachelorthesis waren. 

Worauf freuen Sie sich an der grössten Fachtagung des Autogewerbes am 
meisten?
Simone Ruckstuhl:
Die Vielzahl der Gäste ermöglicht einen sehr praxisnahen Austausch, während die Themensetzung und die Organisation durch den AGVS einen klaren Fokus auf Innovation setzen. Diese Kombination birgt einen Nährboden für anregende Diskussionen und gibt Anstoss dazu, eigene Muster, bisherige Vorgehensweisen und vorhandene Strukturen respektive Prozesse zu hinterfragen. Insbesondere für meine zukünftige Rolle in der Unternehmensführung erachte ich dies als überaus wichtig und schätze das Branchentreffen dafür sehr.

Welche Erkenntnis aus Ihrer ­Bachelorarbeit hat Sie erstaunt?
Mich hat es überrascht, wie komplex die Ursachen für die Minderheit der Frauen im Gewerbe sind. Es ist nicht einfach damit getan, Mädchen bereits früh technische Berufe nahezubringen oder zu betonen, dass man ja offen sei, auch Mitarbeiterinnen einzustellen und zu fördern. Sichtbare Stereotypen abzubauen, ist – wenn überhaupt – nur die halbe Miete. Dazu kommt die fast noch eindrücklichere Erkenntnis: Beide Geschlechter sind in genau gleichem Mass daran beteiligt, dass unsere Branche noch immer eine klar männlich dominierte ist. Das wahre Potenzial der Veränderung liegt also ziemlich tief verborgen. Nämlich in den Strukturen, die bei uns allen ganz unbewusst zu Verhaltensweisen führen, mit denen wir dieselben Strukturen wiederum reproduzieren. Dazu gehören bspw. die Leistungsmessung von produktiven Mitarbeitenden, der tagtäglich gelebte Umgang miteinander, zu dem nicht selten ein harscher Tonfall zählt, die Zusammensetzung von Leitungsgremien, die durch sie geschaffenen Prozesse sowie die Kommunikationswege, die bei all dem genutzt und gewählt werden. Alle diese Muster und Strukturen wurden männlich geprägt und werden noch heute auf diese männliche Weise gelebt. Die Aussage, dass Frauen in der Werkstatt ja willkommen seien, dann halt aber auch Sprüche aushalten müssen und optimalerweise auch zurückgeben sollten, ist ein gutes Beispiel hierfür.

Frauen im Autogewerbe passen sich den männlich geprägten Verhaltensweisen also an? 
Ja, sie ordnen sich in die Strukturen ein und führen sie so selbst weiter. Will heissen: Auch Frauen, die im Gewerbe arbeiten, werden Teil der Problematik und erschweren anderen Frauen den Einstieg in genau gleichem Mass, wie es Männer tun. Wir befinden uns in einem Teufelskreis, den wir wohl nur beenden können, wenn wir das Bewusstsein über den strukturellen Charakter schaffen, auf das Thema und die Komplexität sensibilisieren und unseren Blick auf strukturelle Details legen. Es sind Nuancen, die ganz subtil zur Ungleichbehandlung führen. Und dies betrifft nicht nur Arbeitnehmende und Arbeitgebende, sondern genauso unsere Kundinnen und Kunden. Als ich mich nach der Abgabe meiner Arbeit nochmals mit meinen Interviewpartnerinnen ausgetauscht habe, konnten sie sich in diesem Kreislauf wiederfinden und haben begonnen nachzudenken, was sie dazu beitragen können, diese Reproduktion aufzubrechen und den Weg zu einer tatsächlichen Geschlechtergleichstellung in unserer Branche zu ebnen – auch für andere Frauen. 

Welche Botschaft bezüglich Minorität der Frauen geben Sie dem Gewerbe mit auf den Weg? 
Es ist dieser Blick auf diese Nuancen, der uns das grosse Bild verändern lässt. Es reicht nicht, Frauen in die Werkstatt zu holen und sie gleich zu behandeln, ihre Leistung gleich zu messen, von ihnen die gleichen Eigenschaften, den gleichen Tonfall zu fordern, wie es bei ihren männlichen Kollegen der Fall ist. Es reicht auch nicht, Frauen an den Tisch einzuladen, wenn ihnen von Beginn an mit prüfendem Blick begegnet wird. Oder ihnen mit der teilweise schon fast heroisch anmassenden Haltung zu begegnen, dass man mit der blossen Einladung seinen Teil zur Geschlechtergleichstellung geleistet hat und die Inputs der präsenten Frauen bestenfalls noch mit dem Satz «Frauen bringen schon eine andere Sicht» zu kommentieren. Wir sollten uns fragen, welche Eigenschaften und Leistungen Frauen auszeichnen, unter welchen Rahmenbedingungen die weiblichen Stärken zum Vorschein kommen. Wir sollten ganz ­bewusst auf die jeweiligen Leistungen, Eigenschaften und Kommunikationsweisen beider Geschlechter eingehen und Raum für sie schaffen. Wir sollten uns fragen, inwiefern sich die Geschlechter mit ihren – durchaus unterschiedlichen und teilweise sehr eigenen – Eigenschaften ergänzen, gegenseitig unterstützen, stärken und fördern können. Wenn wir genau hinsehen, diese Nuancen beachten und Details anpassen, dann bin ich überzeugt, können wir gemeinsam noch viel meh­r ­leisten. 
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Die Details rund um die grösste Fachtagung vom 16. Januar 2024 in Bern gibt es hier. 
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