«Theoretiker sind aktuell ­übervertreten»

Thomas Hurter nimmt Stellung

«Theoretiker sind aktuell ­übervertreten»

4. September 2023 agvs-upsa.ch – In knapp zwei Monaten wählt die Schweiz ein neues Parlament. AGVS-Zentralpräsident Thomas Hurter erklärt im Interview, wen es in der Politik nun dringend braucht, wie er die Zukunft des Verbrenners einschätzt und was ihn richtig aufregt.

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Thomas Hurter stellt klar: «Das Auto stellt ein Gründbedürfnis dar.» Foto: AGVS-Medien

Ysc. Thomas Hurter, wie geht es dem Auto in der Schweiz ganz generell?
Thomas Hurter: Hierzulande besitzt praktisch jeder Haushalt ein Fahrzeug. In den Medien allerdings wird das Auto seit geraumer Zeit schlechtgeredet – meines Erachtens oft zu Unrecht.

Sie stören sich also an der Berichterstattung von Radio, Zeitungen und Fernsehen?
Ja, medial dominieren Katastrophenmeldungen. Häufig entsteht der Eindruck, die Welt gehe bald unter.

Nicht zuletzt wurde und wird der ­motorisierte Individualverkehr MIV immer wieder als Klima-Sündenbock ­abgekanzelt.
Der motorisierte Verkehr trägt seinen Beitrag zu den umweltschädlichen Emissionen bei, das ist klar. Das hat jedoch vor allem damit zu tun, dass Bevölkerung und Wirtschaft stetig wachsen. Gleichzeitig möchte jeder die Freiheit besitzen, sich individuell fortzubewegen – unabhängig vom Wann und Wo. Es mag ein wenig abgedroschen tönen, aber: Das Auto stellt ein Grundbedürfnis dar.

Trotzdem hat sich die Branche ab und zu selbst in Teufels Küche gebracht.
Sie sprechen den Dieselskandal an. Ich stimme Ihnen zu: Das war fürs Image natürlich alles andere als förderlich. Insgesamt reagiert die Branche auf aktuelle Schwachpunkte hingegen stets äusserst rasch und innovativ. Nehmen Sie die Motoren: Unterdessen bietet fast jede Marke ein E-Fahrzeug an – solch eine Entwicklung innerhalb von wenigen Jahren. Eines regt mich übrigens wirklich auf.

Was?
Wenn die Politik meint, sie sei schlauer als die Forschung. Bis ein Gesetz in Kraft tritt, dauert es jeweils ein paar Jahre. Die Politik sollte besser die Rahmenbedingungen festlegen, statt zu sagen, was gut und was böse ist.

Die Ausbreitung der alternativen Antriebe sowie die politische Grosswetterlage legen den Verdacht nahe, dass der Verbrenner vor dem Aus steht.
Ich halte dagegen. Und das sage ich nicht, weil ich Motoren mag. Wer fossile Brennstoffe reduzieren will, muss die Lage global betrachten. Die EU verbietet die klassischen Diesel- und Benzinmotoren per 2035 – doch Indien und China werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten kaum klimaneutral unterwegs sein. Persönlich halte ich es für einen Fehler, nicht mehr auf den Verbrenner zu setzen.

Warum?
Weil sich dieselben Fahrzeuge, Infrastruktur und Tanklager eins zu eins weiterbenutzen liessen. Bloss würden die Fahrzeuge mit einem anderen Treibstoff betankt: mit E-Fuels. Die Stolpersteine werden derzeit bei der E-Mobilität sichtbar: Bis eine vernünftige Infrastruktur aufgebaut ist, dauert es Jahre. Bei den E-Fuels dürften vor allem die Preise und die wenig verfügbare Menge zu reden geben. Dann würde ich gerne noch etwas zum «Lebenszyklus eines Autos» sagen.

Bitte.
Neuwagen sind meist zunächst sieben oder acht Jahre in Europa im Einsatz, dann werden sie gen Osten verfrachtet. Von dort aus geht es weiter nach Afrika, wo sie bis zum bitteren Ende gefahren werden. Wenn jetzt in der EU nur noch alternative Antriebe auf den Strassen zugelassen sind, was passiert dann mit Afrika? Dieser Markt wird aufgrund seiner wirtschaftlichen Voraussetzungen noch jahrzehntelang nicht elektrisch betrieben werden können. Da wird eine gut funktionierende Kette unterbrochen.
 

«Das Auto steht vor der spannendsten Zeit, seit es erfunden wurde.»

Thomas Hurter, AGVS-Zentralpräsident


Was halten Sie von Wasserstoffantrieben?
Ich finde neue Technologien toll und bin absolut offen dafür. Bloss ist nicht jede Technologie überall gleich geeignet. Jeder Antrieb soll dort eingesetzt werden, wo er am besten hinpasst. Wasserstoff besitzt ein riesiges Potenzial, einerseits wegen seines Wirkungsgrads, andererseits wegen der raschen «Ladung». Doch auch hier fehlt die Infrastruktur, die aber sicher kommen wird.

Was ist im Bereich Verkehr aus Ihrer Sicht positiv verlaufen, was negativ?
In Bezug auf die Strassen hat sich in den letzten Jahren nur wenig getan. Bei den Agglomerations-Programmen sowie beim Langsamverkehr war tatsächlich eine Art Schub zu beobachten. Sonst aber wurde kaum etwas unternommen. Das betrifft namentlich die Autobahnen, obwohl dort eindeutig das grösste Wachstum stattgefunden hat. Die fünf Projekte, die das Parlament in der Sommersession bewilligt hat (unter anderem soll die A1 zwischen Schönbühl und Kirchberg auf sechs Spuren ausgebaut werden, d. Red.), bedeuten den ersten gewichtigen Ausbau seit mehreren Jahren, selbst wenn das meiste Geld für den Unterhalt ausgegeben wird. Der öffentliche Verkehr wiederum wird von der Politik schon seit längerem gezielt gefördert.

Wo sehen Sie die grössten ­Herausforderungen?
Das Auto wird es immer geben – auch in Zukunft. Spannend zu beobachten sein wird sicher die Entwicklung der Technik, die Automatisierungen. Deshalb steht das Automobil wohl vor der spannendsten Zeit, seit es erfunden wurde.

Was stimmt Sie insgesamt zuversichtlich, was pessimistisch?
Das mediale Schlechtreden nervt mich. Selbstverständlich liegt weltweit einiges im Argen, doch der Mensch ist seit jeher adaptierfähig und hat immer Lösungen gefunden. Panik ist fehl am Platz. Hinsichtlich der Infrastruktur braucht es hingegen neue Lösungen. Stau kannten wir bisher nur aus Ländern mit extrem vielen Menschen, mittlerweile ist er bei uns ebenfalls Alltag. Deswegen sollten wir uns überlegen, wie die öffentliche Infrastruktur besser genutzt werden kann. Gewisse Züge fahren alle 15 Minuten, egal wie viele Menschen den Zug gerade benützen. Die verschiedenen Mobilitätsmöglichkeiten müssen besser koordiniert werden, die Auslastung ist oft ungenügend. Nur ein Ausbau alleine reicht nicht.

Was fällt Ihnen zu Stichworten wie ­Agenturmodell oder Datenschutzgesetz ein?
Ich sehe da eigentlich nur Chancen. Wer flexibel ist, nach alternativen Möglichkeiten sucht und ausprobiert, wird mit ziemlicher Sicherheit überleben. Wer stehenbleibt, geht womöglich unter.

Viele behaupten, die öffentliche politische Diskussion habe sich verhärtet. Sehen Sie das ähnlich?
Tatsächlich nehme ich die Fronten wesentlich verhärteter wahr, die Kompromissbereitschaft hat abgenommen. Ich nehme hier übrigens auch die Politik in die Pflicht: Wer zu 100 Prozent auf seinen Positionen beharrt, wird kaum Lösungen finden.

Wie lautet Ihre Empfehlung für die Wahlen im Herbst?
Logischerweise wünsche ich mir eine stärkere bürgerliche Vertretung in National- und Ständerat. Vor allem aber mehr Leute aus dem Gewerbe sowie Unternehmer. Aktuell sind Theoretiker einigermassen übervertreten. Die grösste Enttäuschung sind für mich indes die Grünliberalen: Sie denken und handeln praktisch genau wie die SP, sind weder liberal noch grün. Zahlreiche GLP-Mitglieder kaufen sich durch ihre Partei ideologisch quasi frei. Sie verdienten jahrelang gutes Geld, jetzt machen sie anderen ein schlechtes Gewissen.
 
Wie häufig sitzen Sie eigentlich selbst am Steuer?
Ich pflege zum Auto eine emotionale Bindung, habe Freude an Oldtimern und an modernen Fahrzeugen. Aus beruflichen Gründen bin ich persönlich gerne mit neuester Technik unterwegs. Für meine politische Tätigkeit in Bern ist der Zug das bequemste Transportmittel, um von Stadt zu Stadt zu pendeln ebenso. Privat entscheide ich mich mal für den ÖV, mal für den MIV. Ich schätze die Privatsphäre im Auto, zum Beispiel nach einem 14-Stunden-Flug. Nachdenken, Musik hören, runterfahren – bevor dann zuhause wieder der Alltag auf einen wartet.
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